Fingerübungen

Reisen mit Frau Schätzlein und Dr. Russwurm

 

 

Bora Bora war recht nett. Aber nun ist es gut. Zum fünften Mal in einem Luxusbungalow auf dem Wasser, ich lag auf dem Boden mit der eingelassenen Glasscheibe und glotzte mit weltmüden Augen in das Stück Südsee unter mir. Die berühmte Lagune habe ich mir gar nicht mehr angeschaut. Und jetzt sitze ich im Flugzeug nach Frankfurt, von wo aus es gleich weiter nach Strumelien geht, dieser aufstrebenden Destination tief hinter dem Kaukasus. Danach wartet eine Safari in Kenia, dann Bergwandern in  Patagonien, gefolgt von Wellness in Oberitalien. Ein anstrengendes Programm. Sie ahnen es schon, lieber Leser: ich bin Reisejournalist. Viele von Ihnen beneiden mich. Fliegt in der Welt herum, nächtigt in Fünf-Sterne-Hütten, schlemmt sich durch die Nationalküchen, zahlt nichts dafür und kriegt für seine Berichte auch noch Geld.

 

Ganz so einfach ist das nicht. Waren Sie schon mal in einem Prollbomber unterwegs mit dem Freundeskreis von Celtic Glasgow nach einem verlorenen Auswärtsspiel? Waren Sie je in der Transsibirischen Eisenbahn auf dem Klo? Wissen Sie, wie man sich nach einer halben Flasche Bärwurzschnaps aus dem Bayerischen Wald fühlt? Sie sehen, mein Beruf bringt allerlei Härten mit sich. Ich habe die 110 Grad-Sauna in Finnland nebst Aufguss überlebt und Offroad-Touren in der Mongolei, ich habe an der irischen Küste Golf gespielt, während sich der halbe Atlantik in meinen Pullover ergoss. Ich habe in Ecuador einheimisches Bier getrunken und zwar nachdem der Dorfhäuptling als Zeichen besonderer Gastlichkeit hinein gespuckt hatte. Und ich habe mich in allen Biosphärenreservaten dieser Erde zu Tode gelangweilt.

 

So geht das nun seit Jahr und Tag. Immer unterwegs, quer durch Zeit und Raum. Jeden Morgen erwache ich in einem Hotelbett mit der Urfrage des Reisejournalisten: „Wo bin ich? Und warum?“

 

Früher war schöner, mit viel Platz in den Zeitungen für anspruchsvolle Reportagen, für die es ein anständiges Honorar gab. Heute wollen die Leute, sofern sie überhaupt noch Zeitungen lesen, nur ein paar Highlights und einige Bildchen. Die Honorare werden immer mieser und ich kann Ihnen, geschätzte Leser, dieserhalb einen gewissen Vorwurf nicht ersparen. Frau Schätzlein und Dr. Russwurm sehen das ähnlich.

 

Meine Kollegen. Drei Reihen vor mir hängt der blonde Lockenkopf von Frau Schätzlein in den Gang. Sie schläft, noch völlig erschöpft von Bora Bora, das sie natürlich „supi“ fand. Sie findet alles supi, auch Strände mit scharfkantigen Steinen oder Berghütten, in denen es nach Ziege riecht. Schräg gegenüber sitzt Dr. Russwurm, wieder einmal in Marcel Proust vertieft. Die Gesamtausgabe von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (5280 Seiten, ich habe es genau gezählt) trägt er stets mit sich. Dr. Russwurm wird immer wunderlicher, macht wohl das Alter. Gott, wie lange reise ich schon mit ihm? Jedenfalls halten sich auf seinem polierten Schädel nur noch ein paar graue Randhaare, dafür sprießen sie ihm aus den Ohren. Rechts als dünne Fäden, links so komisch knäuelartig.

 

Ich kann es nun nicht mehr, liebe Leser, und deshalb schreibe ich Ihnen. Ich bin diesen Sonnehappytouringpulverschneerelaxingtimeouttopfenstrudelallinclusivesscheiss  leid. Ich steige aus. Heute in Frankfurt Airport will ich es wissen, gleich nach der Landung. Wie ich hörte, fährt dort schon seit 1978 eine S-Bahn direkt in die Stadt, in die Freiheit. Ich werde diese S-Bahn nehmen. Ob es meine Wohnung im Westend wohl noch gibt? Wie oft habe ich mich das gefragt und auch, was die mit all den Briefen gemacht haben. Ich habe offensichtlich wirklich mal draußen in Frankfurt gelebt. Vor drei Jahren fand ich in meiner Safarijacke den Kassenzettel einer chemischen Reinigung aus dem Oeder Weg, von 1974 und über 1,50 DM. Die Erinnerung trog also nicht, mich überkam tiefe Rührung.

 

Andererseits darf ich behaupten, dass ich während meiner Zwischenstopps durchaus noch in Frankfurt am Main wohne, irgendwie. Mein Zuhause zwischen Ankunft und Abflug ist der „Skyline“. Das ist der Schwebezug zwischen Terminal 1 und Terminal 2, zwei Minuten hin, zwei Minuten zurück, rund um die Uhr. Er gleitet angenehm leise, sehr komfortabel und vor allem kostenlos. Im Skyline arbeite ich, von dort aus gebe ich drahtlos meine Berichte an die Redaktionen durch und dort schlafe ich. Frau Schätzlein dagegen ruht sich meist im Duty Free Shop aus, am Bulgari-Stand, während Dr. Russwurm in der Alfredo Bar sein mobiles Büro betreibt. So haben wir wenigstens ein paar Stunden Ruhe voreinander.

 

Im Moment kriselt es zwischen uns. Beim letzten Frühstück in Los Angeles setzte sich Frau Schätzlein demonstrativ rund 100 Meter weit weg von mir, wohl weil meine letzte DL etwas matt ausgefallen war. Das mit der DL ist mir peinlich, das erkläre ich Ihnen später. Es war ein schrecklicher Morgen. Sie hatte sich am Büffet zuviel Milch auf das Müsli geschüttet und ich sah mit stiller Erbitterung, wie sie zu ihrem Platz dackelte und ein Band weißer Tropfen auf dem Boden hinterließ. Immer nimmt sie zuviel Milch und lässt es schwappen. Das kann einen fertig machen, glauben Sie mir.

 

Auch Dr. Russwurm hielt bei jenem Frühstück Distanz. Er nahm zunächst wie stets Rührei mit Speck und dann Marmeladenbrote. Ich sah auch auf die Entfernung hin ganz genau, dass er zum Schluss die Restmarmelade vom Messer ableckte. Das macht er jeden Morgen so, es ist nicht zu fassen. Dr. Russwurm ist mir böse wegen der Bademantelgeschichte. Das kam so: in der Regel bezahlt er seine Getränke aus der Minibar, allerdings klaut er immer ein Päckchen Nüsse. Und in jedem Hotel lässt er einen Bademantel mitgehen. Als ich ihn irgendwann vor der Wiedervereinigung kennen lernte, trug er ein schickes T-Shirt aus New York mit einem saftig-grünen Big Apple. Das trägt er heute noch, aber nun sieht Big Apple aus wie ein Stück Dörrobst. Wie auch immer, wir sprachen kürzlich über Strumelien und dass uns dort Staatspräsident Schokoloddse kurz empfangen würde. „Ziehen Sie doch für die Audienz einen schicken Bademantel an“, sagte ich scherzend. Sein Blick hinter den runden Gläsern gefror.

 

Immerhin bewahren wir gewisse Formen und siezen uns, trotz des langen gemeinsamen Wegs. Mit Frau Schätzlein dagegen duze ich mich, das war nach jener Sache in Florenz nicht zu umgehen. Jetzt muss ich die DL doch gleich erklären, ich komme nicht drum herum. Also, Frau Schätzlein war früher Sekretärin beim Technischen Hilfswerk in Olpe und dem Vizekassierer der dortigen Raiffeisenbank „fest versprochen“. Doch dann drückte sich der Herr. Danach ging sie auf Reisen und schreibt nun für den „Leuchtturm“, das Organ der Kreishandwerkerinnung Olpe-Süd, im Ressort LifeStyle. Vom Vizekassierer, dem „Schuft“, hat sie mir an einem magischen Abend hoch über dem Arno erzählt, sie wurde so anhänglich und ich tröstete sie – Sie wissen schon, was ich meine. Ich nannte es „Dienstleistung“ und trug es unter dem Kürzel DL in mein Tagebuch ein.

 

Anfänglich habe ich die DL gerne erbracht, bisweilen auch mehrfach. Frau Schätzlein war durchaus ansehnlich und schlank wie Sisi. Die Blümchenjeans standen ihr prächtig. Heute erinnert sie mich eher an einen Bayerwaldkürbis, sie trägt immer noch Blümchenjeans, aber mit Dehnungsfugen. Nun geht es mir mit ihr wie mit Bora Bora.

 

Doch ich hüte die Erinnerung an die Sisi-Jahre. Was waren das für Zeiten. In Burma bot ein Dorfältester einen ganzen Wasserbüffel für sie. Dr. Russwurm war damals scharf darauf, den Deal zu machen. Er hasst sie, seitdem sie einmal fragte, ob Marcel Proust auch die Vorlage für „Verbotene Liebe“ geschrieben habe. Danach frühstückte ich mit ihm im Le Bristol in Paris. Er häufelte vorsichtig einen Klacks Marmelade auf sein Croissant, biss hinein und sagte über die Schätzlein: „Dieses Geschöpf wurde im Zustand der kompletten Ahnungslosigkeit geboren. Und so wird es diese Welt auch wieder verlassen.“ Er biss erneut ins Croissant und saugte dann zufrieden am Marmeladenmesser.

 

Schon aus alter Verbundenheit habe ich Frau Schätzlein verteidigt. Sie ist so arglos, sie kann sich noch so schön freuen und sie leidet immer mit, bei einem toten Schmetterling in einer Streuobstwiese oder wenn Pepe wieder mal ein Schaf überfahren hat. Pepe ist unser Busfahrer, doch der hat erst später seinen Auftritt.

 

Ungeachtet aller Differenzen haben wir drei einige Gemeinsamkeiten. Beispielsweise gewisse Liquiditätsprobleme. Vor drei Wochen musste ich daran denken, als ich in Dublin in einer Executive Suite hauste, für 600 Euro die Nacht, wie das Schildchen in der Tür auswies. Ich zählte mein Geld, es waren 17,50 Euro, die für die nächsten Tage reichen mussten. Ein Päckchen Zigaretten und außerdem sollte meine Safarijacke mal in die Reinigung – ich muss schon sehr haushalten. Wie gut, dass die Touristikleute, die uns einladen, stets so freundlich für Transport, Unterkunft und Verpflegung sorgen.

 

Heute könnte ich mir im Frankfurter Westend nicht mal eine Parkbank mieten. Noch schlimmer steht es um Dr. Russwurm. Es gibt nämlich fünf kleine Russwürmer, die ernährt werden müssen und da bleibt für den Doktor nichts mehr übrig. Nie werde ich vergessen, wie er 1996 am Schalter 54 der Lufthansa seine Familie zur Weihnachtsfeier um sich versammelte. Frau Russwurm war auch da, eine reizlose Erscheinung, sodass von ihr nicht weiter die Rede sein soll. Ergreifend, wie Dr. Russwurm jedem seiner Lieben einen peruanischen Schrumpfkopf und ein Päckchen Nüsse schenkte. Dann hieß es wieder Abschied nehmen und wir Heimatlosen wurden hinausgeschleudert zur nächsten Destination. In Venedig fand Dr. Russwurm an der Bar im Cipriani die passenden Worte dazu: „Wir sind Geworfene“. Eigentlich wollte Dr. Russwurm einen Lehrstuhl für Romanistik in Tübingen erklimmen, doch das Schicksal hatte anderes mit ihm vor. Er trägt es mit Würde, weshalb ich ihm viel verzeihe.

 

Im Lauf der Jahre ist Dr. Russwurm immer dünner geworden, bisweilen habe ich Angst, er verflüchtigt sich ganz. Doch letzthin irgendwo in der Nähe des Urals gab er wieder einmal ein Beispiel seiner Zähigkeit. Er saß am Tisch, nahm zum Vorglühen 100 Gramm Wodka, flankiert von ein paar Appetizern, dann ging er zur Suppe über, ordnete diverse Salate, einen Kartoffelhaufen und einen Nudelberg zu einem hübschen Arrangement um sich herum, leerte einige Humpen schweren süßen Weins, vertilgte eine armdicke Forelle sowie 100 Gramm Wodka, dem ein halbes Ferkel folgte, abgerundet durch zwei Palatschinken sowie 300 Gramm Wodka. Das Ganze bewältigte er stoisch, fast mechanisch. Bei unseren Busfahrten stelle ich mir oft das Russwurmsche Verdauungssystem als eine Art High Tech – Röhre vor, in der alles Organische umgehend und rückstandsfrei verbrennt. Und die Membranen seiner Körperzellen sind stetig umspült von Alkohol, mithin ein Ökosystem im Gleichgewicht.

 

Wenn ich es recht bedenke, so bin auch ich körperlich noch ganz gut in Form. Neuerdings wollen die Redakteure immer mehr Wellness-Berichte von mir, das Publikum sei ganz verrückt danach.  Die kriegen sie, auch wenn ich persönlich meine, dass es eine kalte Dusche und ein bisschen Seife auch tun. Mittlerweile habe ich Edelstein-Aromadampfbäder hinter mir, ich stürzte mich in Kneipprondelle und Eisbrunnen, ich wurde salzölgepeelt und in Avocadoöl getränkt. Ich wurde in Folien gewickelt und klangschalentherapiert, ich räkelte mich in Naturschlämmen, wurde eingesalbt und in die Kaiserwanne gesteckt. Ich bin White Stone – massiert und habe eine Haut wie ein Baby. Meine Muskeln sind derart durchgewalkt, dass ich geschmacklich jeden Vergleich mit einem Kobe-Rind aushalten würde.

 

Sie lachen? Dann waren Sie nicht bei jenem Traum dabei, der mich manchmal heimsucht.

Ich liege nackt und eingeschnürt wie eine Roulade inmitten einer riesigen Paella, der Busfahrer Pepe macht eifrig Feuer unter der Pfanne und Frau Schätzlein sowie Dr. Russwurm hocken am Pfannenrand mit mächtigen Gabeln, meine Garung erwartend. Der Traum kommt dann, wenn meine DL für Frau Schätzlein ausgeblieben ist. Dann schließt sie kurzfristig ein Bündnis mit Dr. Russwurm, der ansonsten für sie nur „der böse Herr Doktor“ ist. Für ein paar Tage stehe ich der Zweierkoalition gegenüber, die beim Büffet schnell vor mir den Obstkorb leert oder beim Besuch eines Weinguts meine Gratisflasche klaut. Ich sehe das aber gelassen, denn ich habe meinen Geheimbund mit Pepe, dem ich ab und an ein paar Selbstgedrehte spendiere. Pepe hat Einfluss, er kann vieles, er kennt jeden. Dr. Russwurm weiß bis heute nicht, weshalb er in den Hotels immer zur Straßenseite hin schlafen muss und ich im Gartenflügel nächtige.

 

Pepe fährt uns schon lange, ich könnte auch sagen, ich wohne in seinem Bus. Er ist ein kleiner Flinker, schwarze Kräuselhaare auf Kopf und der Brust,  wo sie sich um das Goldkettchen schlängeln. Wenn ich in der Frühe aus dem Hotel trete, ist er schon da und kommt mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu. Stets trompetet er, die Karies auf den oberen Schneidezähnen entblößend: “What a wonderful morning, isn’t it?“ Dann packt er meinen Koffer und fügt hinzu: „Aufi geht’s”.

 

Seine Herkunft ist mir unklar. Ich schätze mal, ein Mestize mit fabelhaftem Englisch, wenn auch in Ostlondoner Färbung, dazu ein Schuss tirolischer Kernigkeit. Er könnte 40, 50 oder 90 sein, keine Ahnung. Er ernährt sich von Coca Cola und Selbstgedrehten, er fährt sicher und schnell. Ohne Pepe wären wir aufgeschmissen. Im Bus sitzt Dr. Russwurm ganz vorne, denn er war ja der erste. Ich habe meinen Platz direkt neben dem Mittelausstieg, während Frau Schätzlein, die als letzte zu uns stieß, ganz hinten lebt. Sie hat es sich dort gemütlich gemacht, mit ein paar Geranientöpfen, die sie mit San Pellegrino wässert.

 

Immer Pepe, immer derselbe Bus? Das geht doch gar nicht, werden Sie sagen. Mir ist das auch schon aufgefallen und es beunruhigt mich sehr. Aber ob in Lissabon oder Johannesburg, ob in Miami oder Buenos Aires – wann immer ich aus dem Flugzeug steige, ist Pepe mit seinem Bus schon da. Nehmen wir es einfach mal so hin. Überreizt und übersättigt wie ich bin, kann ich nicht allen Dingen auf den Grund gehen.

 

So halte ich es auch mit jener merkwürdigen Geschichte, die sich jüngst in Zagreb zutrug. Sie kennen ja Gruppenreisen: einer meckert immer, einer kommt stets zu spät und einer geht verloren. Das Verloren gehen ist eine Schätzleinsche Spezialität. Jedenfalls kamen wir von München, wo die Schätzlein das letzte Mal am Gate 23 gesichtet wurde. In der Maschine war sie nicht und Dr. Russwurm und ich standen dann an der Gepäckausgabe in Zagreb, wo unerlöst die rosa Reisetasche von Frau Schätzlein auf dem Band zirkulierte. Dann stoppte die Anlage.

 

„Endlich. Sie ist weg,“ knurrte Dr. Russwurm.

 

Wie aufs Stichwort ruckelte das Band wieder los und Frau Schätzlein wurde aus den Tiefen der Gepäckförderanlage aufs Band geschleudert. Sie drehte eine Runde, dann sprang sie ab, fuhr sich durch den Lockenkopf und sagte: „Huch.“

 

Wahn oder Wirklichkeit? Später sprach ich mit Dr. Russwurm darüber, doch er sagte nur mürrisch: “Ich weiß nur, dass sie wieder da ist.“

 

Und wie oft ist sie uns verloren gegangen! Ich habe sie schon aus einem mandschurischen Gefängnis geholt, ich hielt das Seil, als sie auf dem Aletschgletscher in eine Spalte rutschte, wobei ihre Kürbisform Schlimmeres verhinderte. Ich hatte immer ein Auge auf sie, ist sie doch ablenkbar wie ein Falter. Gehen Sie mal mit ihr durch eine Einkaufsstraße – Sie reden so vor sich hin, schauen nach vorne und wupps ist sie weg, absorbiert von irgendeinem glitzernden Unfug, der umgehend erworben werden muss. Wir haben Frau Schätzlein schon in Seilbahnen und Aufzügen verloren, auf Schiffen sowieso. Allerdings hat sie ein beträchtliches Talent darin, wiedergefunden zu werden. Oft kam ich von einer vergeblichen Suche zurück zum Bus, doch dort hockte sie schon bei Pepe und schmollte.

 

Mir wird der Abschied von ihr schwer fallen, man hat sich aneinander gewöhnt. Es war doch schön, wenn ich nach vollzogener DL auf ihrer Bettkante saß und ihrem Schnurren lauschte. Wenn mich das Heimweh übermannte, erzählte sie mir vom Sauerland und vom Schuft. Sie hatte immer ein Pflaster für meine Blasen vom Wandern oder kochte mir mit ihrem Tauchsieder einen Heiltee, wenn auch ich versucht hatte, ein halbes Ferkel zu verspeisen.

 

Und was mache ich mit meinem Übergepäck, wenn ich ganz aussteige? Als es gar zu arg wurde, hat Pepe dem Bus einen Anhänger beigesellt. Ab und an schaue ich dort nach: ganz hinten hängen die Bademäntel von Dr. Russwurm, den meisten Platz nehmen die Tüten von Frau Schätzlein ein für ihre Spitzendeckchen, Tonkrüge, Kettchen, Armbänder, Straußenfedern, Totenmasken, Speere, Schwimmflügel und Nashorneierimitate. Das Meine ruht in einer kleinen Kiste. Dort findet sich meine Sammlung Seifchen, Haarshampoopröbchen und Duschhäubchen. Die kennen Sie ja auch aus den Hotels. Es ist  zwanghaft, aber ich muss sie immer mitnehmen, vor allem die Duschhäubchen. Und es werden immer mehr.

 

Ansonsten bin ich sehr diszipliniert. Wir Reisejournalisten werden nämlich von unseren Gastgebern ständig mit Geschenken überschüttet. Mit T-Shirts, Baseballkappen, Stiften und Notizblöcken, Plastiktaschen, Schlüsselanhängern, Compact Discs und Prospekten. Vor allem letztere sind stets ein Quell der Erkenntnis. Da werden Städte voller Taschendiebe zu „pulsierenden Metropolen“ und Einheimische, die mit Erdäpfeln nach einem werfen, sind

„von traditioneller Gastfreundschaft“. Das alles entsorge ich rasch, denn ich schreibe nur über das, was ich sehe und wie ich es sehe.

 

So hatte es ich mir auch für Strumelien vorgenommen. Vor mir liegt das Programm unserer Studienreise, es ist purer Stress. Sicher denken Sie, liebe Leser, wir ließen uns genussvoll durch die Gegend treiben oder faulenzten am Pool. Da denken Sie falsch. In den vier oder fünf Tagen unseres Besuchs wollen die Gastgeber ihr herrliches Land in aller Totalität zeigen.

Und das mündet in eine Agenda ohne Gnade. Ich weiß, wie es werden wird, ich war schon mal in Strumelien, ich war ja schon überall mal da.

 

Nehmen wir nur den zweiten Tag in Strumelien. 7 Uhr ist Abfahrt mit Pepe, 8.30 Uhr folgen 15 Minuten Besichtigung eines Strands, wo jeden Abend der schönste Sonnenuntergang des Landes stattfindet. Den sehen wir nicht, sondern müssen ihn uns vorstellen. Dafür wartet um 9 Uhr die Statue von Schloffjev, dem berühmten Nationaldichter, auf uns. Während uns der Fremdenführer aus Schloffjevs Hauptwerk Zyklopse vorliest, gibt es den ersten Woschtsch, den beliebten strumelischen Schnaps. Dann stürmt Pepes Bus endlose Serpentinen hoch bis auf den Gipfel des Ruptse, dem höchsten Berg des Landes. Oben ist es kalt und zugig, denn von dort aus nimmt der Brunzek, jener bösartige Fallwind, seinen Lauf. Wir wärmen uns durch 20 Minuten Nordic Walking, bevor wir in dem neuen Gipfelhotel (es gehört Frau Schokoloddse) die Wellnessoase besuchen. Ich darf für zehn Minuten ein Tauchbad in original strumelischer Molke nehmen.

 

Beim Empfang des Ortswoiwoden im Hotel gibt es wieder Woschtsch und gegen Mittag bin ich mittelschwer angetrunken. Im Bus darf ich ein bisschen ausnüchtern, um dann in der neuen Anlage für Ferienwohnungen (gehört Schokoloddse jun.) die Matratzen und Klos zu prüfen. Vor dem Bus wartet eine Gruppe, die uns mit dem Volkstanz Hurlitza quält, ehe es zurück in die Hauptstadt Strunze geht, wo wir für eine Stunde das pulsierende Metropolenleben inhalieren. Danach fahren wir entlang der vielbesungenen Plötze, die sich braun und schlammig dem Meer entgegen wälzt. Es geht ins Plötze – Delta, ein selten unwirtliches Biosphärenreservat. Wenn die Mücken dort fertig mit mir sind, sehe ich aus wie ein Streuselkuchen.

 

Doch da steht schon der zehnminütige Empfang beim Staatspräsidenten an, im Palast hoch über Strunze. Schokoloddse nötigt uns drei Woschtsch auf, ehe wir gegen Abend noch ein Fußballstadion, fünf Museen, drei Töpfereien und zwei alte Mühlen besichtigt haben. Ich werde längst erschöpft sein, doch in einem Weingut soll der schöne Tag mit einem Dinner nach Art des Landes seinen Abschluss finden. Nun wird das Grauen authentisch. Das Menü wird auch Dr. Russwurm alles abverlangen. Was mir besondere Angst macht, das ist die Sfirre, der Kernklangkörper jeder strumelischen Kapelle. Eine solche wird uns während des Essens begleiten und zwar ununterbrochen, von links und von rechts. Der feine, hohe Ton der Sfirre fräst sich direkt ins Gehörzentrum und geht bei manchen nie wieder weg, wie mir Strumelien-Veteranen berichteten. Wenn wir Glück haben, sind wir nachts gegen zwei im Hotel. Nach der DL bleiben mir nur wenige Stunden, ehe es wieder heißt „What a wonderful morning“.

 

Immer noch Lust auf Strumelien? Ich nicht. Gerade setzt der Jet zum Sinkflug an, mein Frankfurt rückt näher. Ich blicke aus dem Fenster, sehe schon einzelne Siedlungen. Die Heimat. Ganz im Ernst, liebe Leser – ich halte Reisen für völlig bescheuert. Warum bleibt Ihr nicht zuhause, im gemäßigten Klima, wo es halbwegs sichere Straßen gibt, ganz nette Leute und annehmbares Essen?

Ich jedenfalls steige aus, ich will doch nicht verrückt werden.

 

 

 

Ich war so nahe dran. Aber ich habe es nicht geschafft, verehrter Leser, dem ich diesen Epilog aus meinem Hotel in Strunze schreibe. Keine fünf Meter trennten mich von der Glastür Richtung S-Bahn, da hatten sie mich eingeholt. Frau Schätzleins hellblaue Augen hatten einen wässrigen Glanz und Dr. Russwurm hingen die Haare so welk wie noch nie aus den Ohren. Er trug seinen besten Bademantel und er hielt Frau Schätzlein an der Hand. Seine Stimme war weich, als er leise fragte: „Sie wollen uns doch nicht….?“

 

Was hätten Sie gemacht? Ich wollte zwar, aber ich konnte nicht. Und saß dann in der Turboprop der Stromelian Air. Bei der Landung in Strunze verfehlte sie nur knapp die ausgebrannten Panzer vom letzten Frühjahrsputsch am Rand der Piste. Ich straffte den Rücken, holte im Terminal mein Gepäck. Ich trat ins Freie, wo mich der Brunzek fast wieder ins Gebäude wehte. Aus schwarzen Wolken prasselten mir Eisnadeln ins Gesicht, doch ich riss mich zusammen. Dienst ist Dienst. Ich erblickte den Bus, Frau Schätzlein und Dr. Russwurm hatten schon ihre Plätze eingenommen. Pepe kam auf mich zu, strahlte, die Karies hatte nun auch die untere Zahnreihe erfasst. Er rief: „What a wonderful morning, isn’t it?”

Und ich sagte ergeben: „Aufi geht’s”.